Fußschmerzen oder der Zahnarzt

Meine Tochter hat Fußschmerzen, schon seit längerem kann sie nicht auftreten, der Schulsport sowie die Zimmerreinigung leidet darunter.
Normalerweise reicht ein „Dann ruf ich mal beim Arzt an“ aus, damit eine spontane Wunderheilung einsetzt.
Diesmal aber schien es doch ernster zu sein, also fuhren wir zum Orthopäden.
Da meine Tochter durch ihre emotionalen Störungen ein extrem schwieriger Patient ist, machte ich mich auf einiges gefasst.
Sie hat dann das Eingerenke („Aua“), die Wirbelsäulenanalyse („Aua“) und auch die 5 Kontrollschritte („Aua“) sehr gut geschafft.
Entgegen meiner Erwartung konnten wir schon nach einer knappen halben Stunde die Praxis wieder verlassen – gesegnet mit einem weiteren Attest.

Genau gegenüber der Orthopädie gibt es eine Zahnarztpraxis.
Erwähnenswert ist, dass die 12-jährige Tochter noch niemals beim Zahnarzt war.
Vor drei Jahren habe ich sie mal mitgenommen, damit mein Arzt auch schnell mal einen Blick auf ihre Zähne werfen konnte, aber es gab noch nie Grund zur Beanstandung – kein Loch, kein Putzfehler, kein anderes Problem..

Beschwingt von dem tollen Erlebnis zuvor, sagte ich übermütig zur Tochter: „Lass uns doch schnell mal da beim Zahnarzt fragen, ob er jetzt ganz spontan Zeit hat.“

Ein neuer Zahn kam nämlich gerade VOR einem Milchzahn heraus und es stellte sich die Frage, ob der Milchzahn gezogen werden sollte oder ob der neue diesen verdrängen würde..

„Hmm.. ok – aber NUR KUCKEN LASSEN..“
„Natürlich, und wenn er sagt, der muss gezogen werden, machen wir dafür einen Extratermin ab, einverstanden?“

So betragen wir also die unbekannte Praxis und waren erfreut zu hören, dass der Arzt in 10 Minuten Zeit hätte.
Unsere Freude begann sich etwas zu trüben, als wir in das klitzekleine Wartezimmer kamen – wir fanden einen Raum vor, der ungefähr so groß wie eine Bushaltestelle war – er sah auch entsprechend aus.
Als Mutter schaue ich in Wartezimmern immer zuerst in die Kinderecken – ist diese gut ausgestattet, fasse ich schneller Vertrauen zum Arzt.

Diese „Kinderecke“ war so groß wie ein Katzenklo – zwei abgegrabbelte Kuscheltiere mit einer ungeraden Anzahl an Augen waren des Spielzeugs genug.
Jedenfalls stand dort EIN kleiner Stuhl.
Die Lektüre für die Erwachsenen Patienten beschränke sich leider auf Werbebroschüren für Zahnpasta und Rheumasalbe und – eine Bibel…

Die Emotionen der Tochter waren nur noch schwer zu bändigen, als dann schließlich der Zwilling von Kojak ins Sprechzimmer bat.
Er drückte mir kräftig die Hand („Aua“) und bat die Tochter, sich auf den Behandlungsstuhl zu legen.
Auf die Frage „Na, was hast du denn für ein Anliegen?“ antwortete sie noch tapfer „Also ich wollte.. also da ist ein Milch.. also ein Milchzahn…“, zeigte mit dem Finger auf die betroffene Mundpartie und schaute gleichzeitig mit großen Augen in die offene Besteckschublade des Zahnarztes..
„Na, leg dich man hin, alles weitere mache ich dann schon..“
„Aber der Zahn wird doch nicht gezogen, oder?“, fragte die 12J ängstlich.
„Also was ich mache, das überlässt du am besten mal mir !“

Jetzt war für mich der ideale Moment, ihm einige Fakten zu nennen.
„Annemarie ist sehr ängstlich – sie war noch nie beim Zahnarzt. Könnten sie ihr das ganze ein wenig leichter machen? Das wäre toll..“, bitte ich zuversichtlich.

Was danach passierte, glich einem schlechten Film.
Dr. Kojak drückte das Kind auf den Stuhl und fing an, ihr mit einem Spiegel im Mund herumzufuchteln.
Eine bis dato unsichtbar im Hintergrund geparkte Sprechstundenfrau stellte die über-den-Kopf-hängende Lampe richtig ein und tippte dann wichtige Dinge auf ihrer Tastatur.
„F5 oben, Z3 unten, F10 löschen, BMX vorhanden..“
So begutachtete der Doktor jeden Zahn der Tochter, die tapfer ihre Hände in die Hose krallte.
Ich merkte, dass sie kurz vorm Platzen war und schickte ihr mentale Stärke.
Plötzlich eskalierte die monotone Situation – Dr. Kojak zauberte aus dem Nichts ein Luftpuster hervor und brachte mit ein paar gezielt eingesetzten „PPFFFFT PPFFFFT “ die Tochter fast an die Grenze der Hysterie.
Sie versuchte, sich aufzurichten und zu analysieren, was ihr jetzt dieser fremde Mensch in den Mund gesteckt hatte.
Ein panisches „WAF WAR DAF??“ veranlassten den Arzt und die Chamäleonfrau aber lediglich, sie festzuhalten und wieder auf die Liege zu drücken.
Um ein paar beruhigende Worte bemüht, sagte der Arzt dann (und ich schwöre, dass es so und nicht anders stattgefunden hat):
„Du schminkst dich? Sieht aber SCHEISSE aus.. lass das doch !“ – der perfekte Satz für ein pubertierendes, psychisch nicht gesundes Mädchen..

Fassungslos öffnete ich den Mund, um meiner Empörung Luft zu verschaffen, dachte dann aber an die ausweglose Situation der Tochter und versuchte abermals, an sein Einfühlungsvermögen zu appelieren.
„Meine Tochter hat psychische Störungen – würden sie bitte ein wenig darauf achten, ihr vorher zu erklären, was sie gerade machen? Das würde ihr wirklich sehr helfen (du Arsch)..“

Dr. Kojak fing an, ihr vom VERSIEGELN der Zähne vorzuschwärmen – sicherlich dachte er dabei an die finanzielle Mehreinnahme, die aber wohl nicht der Kinderecke zu Gute kommen würde.
Die Tochter hatte seit dem auf-die-Liege-gedrückt-werden schon dicht gemacht – sie gab auf jede Ausführung des „Arztes“ ein „OK“ zum besten.. als wollte sie ihn damit beruhigen und gnädig stimmen.. meine arme, tapfere Tochter.

„Jaja, du brauchst nicht immer OK sagen !“ kam dann vom Arzt, der mit Sicherheit nicht im Umgang mit Kindern geschult war.
Schließlich packte er weitere Instrumente aus, von denen ich irgendwie annahm, dass sie Rostflecken enthielten.
Ein panisches „WAS MACHEN SIE JETZT ?“ der Grossen wurde gelassen ignoriert und störte ihn nicht im geringsten dabei, mit seiner Instrumentenvorführung weiterzumachen.
Tränen liefen der Tochter über die Wangen – leider ignorierte Dr. Kojak diese auch vortrefflich..

„Ach und übrigens, die VERSIEGELUNG kostet sie 15,- pro Zahn..“, erzählte er mir durch seinen Mundschutz.
während er den Kopf abwendete und laut die Nase hochzog, war ich ganz hypnotisiert von der Frage, was wohl schon alles in diesem Mundschutz gelandet war..

„Ähm – ja.. aber das machen wir doch nicht jetzt.. ich kann es mir ja überlegen.“
Meine Tochter will aufspringen, wird aber wieder von immerhin behandschuhten Händen festgehalten.
„Nein nein,. das machen wir jetzt !!“
Und liebe Leute, die Panik in den Augen meiner Tochter brachen mir das Herz.
Der Überlebensmodus wurde aktiviert.

„Ohh nein, das machen wir NICHT jetzt und auch nicht irgendwann anders – jedenfalls nicht HIER !“
Ich zerrte das Kind, das die Spannkraft eines Handtuchs hatte, vom Stuhl, ließ die Chamäleonfrau und den gruseligen Doktor stehen und marschierte zum Ausgang.
Als die Tür hinter uns ins Schloss fiel, brach die Tochter schließlich zusammen.
Sie weinte und weinte, ich nahm sie in die Arme und versuchte eine Kraftübertragung..
Doch mein Ärger über die ganze Situation hatte noch keine Gelegenheit gehabt, sich an den richtigen zu wenden, deshalb klingelte ich und betrat noch einmal die Praxis.
Dr. Kojak und zwei in weiß gekleidete Frauen standen dort an der Rezeption und ich fing sofort an:
„Ich möchte ihnen nur sagen, dass ich es ganz schlimm finde, wie sie diese Behandlung durchgeführt haben. Ich hatte ihnen gesagt, dass meine Tochter Probleme hat und sie sind nicht in der Lage gewesen, auch nur ein wenig auf sie einzugehen..“

Der Satz „Jedem so, wie er es braucht !“ glättete die Wogen nicht unbedingt.

„Sie hätten doch einfach etwas mehr erklären können – und SCHEISSE ist auch nicht gerade das Wort, dass ich von einem Mediziner erwarte..“

„Wenn das ihren erzieherischen Ansprüchen nicht genügt, kann ich da auch nichts für.. “
Und so wurde ich zum ersten Mal aus einer Praxis rausgeschoben – und es war wohl auch besser so!
Die Tochter habe ich lange beruhigen müssen.. und meine Absicht, ihr einen entspannten, ersten Zahnarztbesuch zu verschaffen, ging völlig schief.
Mit einem emotional gestörten Kind gestaltet sich so ein Arztbesuch als sehr schwierig. Viele Faktoren bedürfen einfach einer genaueren Prüfung, bevor man das Kind einer neuen Situation aussetzt.
Manchmal vergesse ich das oder messe dem Problem nicht genug Bedeutung zu – das ärgert mich, ist aber menschlich !

Ein Gutes hat die ganze Geschichte allerdings – „Wow, du hast dich so toll für mich eingesetzt, du bist die allerbeste Mutter !!“ habe ich an diesem Tag noch oft gehört.